Universitätsnervenkliniken im Nationalsozialismus. Eugenik, Krankenmorde, Begleitforschung

Universitätsnervenkliniken im Nationalsozialismus. Eugenik, Krankenmorde, Begleitforschung

Organisatoren
Moritz Verdenhalven, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie / Tobias Freimüller, Fritz Bauer Institut, Goethe-Universität, Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
07.07.2022 - 08.07.2022
Von
Lilli Skär, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Frankfurt am Main

Ziel des Workshops zu Universitätsnervenkliniken sowie deren Direktoren und Ordinarien im Nationalsozialismus war es, Forschende zusammenzuführen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Geschichte der Universitätspsychiatrie im NS-Staat beschäftigen, die im Vergleich zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten signifikant weniger erforscht ist.

Zu Beginn ging VOLKER ROELCKE (Gießen) grundsätzlich auf die Unterscheidung zwischen Universitätspsychiatrie und den Heil- und Pflegeanstalten ein. Er betonte, dass die Trennung zwischen Universitäts- und Anstaltspsychiatrie von Beginn an theoretischer Natur und eine Fiktion war. In der Praxis gab es mehrere Anstalten, die als Universitätskliniken dienten. Universitätspsychiater übernahmen die Leitungen von Anstalten, Anstaltspsychiater wechselten an Universitätskliniken. Nach 1945 wurde diese theoretische Trennung genutzt, um die Universitätspsychiatrien als unbelastete Institutionen darzustellen, die nicht an der „Euthanasie“ beteiligt gewesen seien. In der Realität waren Universitätspsychiater in unterschiedlichem Ausmaß daran beteiligt.

In ihrem Vortrag über die „Reichsuniversität“ Straßburg im annektierten Gau Baden-Elsass berichtete LEA MÜNCH (Berlin) von der dortigen Anwendung der Elektroschock-Therapie. Sie führte aus, dass zwar die Indikationen und die Behandlungspraxis aus der Quellenlage zu erschließen sind – die psychiatrischen Krankenakten sind fast vollständig überliefert –, die Betroffenenperspektive sei jedoch nur schwer zu rekonstruieren. An einem Fallbeispiel, zu dem diese Perspektive anhand von Angehörigeninterviews indirekt zur Verfügung stand, stellte sie dar, dass die Behandlung zuweilen als Folter wahrgenommen wurde. In anderen Fällen wurde die Behandlung als erfolgreich erlebt, und auch die Ärzte und Ärztinnen wollten die neuartige Methode nicht mehr missen.

MARTIN KIECHLE (Mainz) referierte über die Universitätsnervenklinik in Jena und ihre Beteiligung an den NS-Medizinverbrechen. Er berichtete von einer an Schizophrenie erkrankten Patientin, die nach einer eingeschränkt erfolgreichen Behandlung zwangssterilisiert wurde. Kiechle zeigte, dass die Verbindungen zwischen Medizinalbeamten und Beamten des Innenministeriums einen maßgeblichen Einfluss auf die Neubesetzung des psychiatrischen Lehrstuhls hatten. Diese Verbindungen beeinflussten auch die praktische Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in der Universitätsnervenklinik Jena. Die Jenaer Psychiater, so Kiechle, waren in vielfacher Hinsicht in NS-Medizinverbrechen involviert, auch wenn sie oftmals ein lediglich „loyal-distanziertes“ Verhältnis zur NSDAP und den neuen Machthabern hatten.

MORITZ VERDENHALVEN (Frankfurt am Main) stellte empirische Ergebnisse seines Forschungsprojekts zur Frankfurter Universitätsnervenklinik im Nationalsozialismus vor. Er ging vor allem auf die Praxis der Zwangssterilisationen, auf die Mortalitätsrate und auf die Verlegungen aus der Nervenklinik in die umliegenden Heil- und Pflegeanstalten ein. Auf der Suche nach Hinweisen auf Morde in der Universitätsnervenklinik stellte Verdenhalven steigende Mortalitätsraten ab Mitte der 1930er-Jahre fest, die noch nicht ausreichend interpretiert werden können. Hinweise auf individuelle Morde oder systemische Vernachlässigung wie in den umliegenden Heil- und Pflegeanstalten des Bezirksverbandes Hessen-Nassau fanden sich bisher nicht. Zwar kam es mit dem Bekanntwerden der „Euthanasie“ zu einer Reduktion der Verlegungsrate, da dies aber auch bei Kliniken so war, die von klaren Befürwortern der „Euthanasie“ geleitet wurden, lag dies vermutlich nicht am Handlungsspielraum der Verantwortlichen der Nervenklinik in Frankfurt.

In seinem Vortrag über die Psychiatrische und Nervenklinik der Berliner Charité im Nationalsozialismus stellte THOMAS BEDDIES (Berlin) das Wirken des dortigen Klinikdirektors für Nervenkrankheiten Karl Bonhoeffer und seines Nachfolgers Max de Crinis dar. Bonhoeffer beteiligte sich zwar im Rahmen von Fortbildungen und Gutachten an der Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, wahrte aber Distanz zu den nationalsozialistischen Machthabern und beteiligte sich nicht an der „Euthanasie“. Im Gegensatz dazu wurde Max de Crinis vor allem als Standespolitiker beschrieben, mit besten Verbindungen zu den Machthabenden, der in die Organisation der „Euthanasie“ eingebunden war, diese auch mit seinen eigenen Wertvorstellungen vertrat und auch in die Begleitforschung involviert war.

SABRINA FREUND (Erlangen-Nürnberg) beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ und der NS-Gesundheitspolitik an der Universität Erlangen. Sie referierte über den Klinikleiter Friedrich Meggendorfer und seine Einführung der Krampftherapien. Auffällig an der Erlanger Klinik waren die ungewöhnlich langen Klinikaufenthalte der Patientinnen und Patienten, die zum Teil viele Jahre dort zubrachten. Freund erläuterte auch die Erlanger Besonderheit, dass die Universitätsklinik räumlich einen Teil der Anstalt darstellte. Das genaue Verhältnis zwischen Universitätsklinik und Anstalt in Bezug auf Weisungsbefugnisse und finanzielle Abhängigkeiten lässt sich heute nicht mehr genau definieren. Freund konnte aber feststellen, dass als störend empfundene Patientinnen und Patienten kurz vor den T4-Transporten aus der Klinik in die Anstalt verlegt wurden.

JULIA NEBE (Düsseldorf) behandelte die Forschung Franz Siolis, der im NS-Staat den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Akademie Düsseldorf bekleidete und in Personalunion das Direktorenamt der dortigen psychiatrischen und neurologischen Klinik innehatte. Sioli forschte an Mitteln gegen progressive Paralyse sowie zur Malariabehandlung gegen Schizophrenie. Zur Anstalt Grafenberg, die eine der drei Sammelstellen für die Verlegung jüdischer Patientinnen und Patienten nach Hadamar war, äußerte sich Sioli nie. Nebe unterstrich die Bedeutung der Erforschung und der Kontextualisierung von nicht freiwilliger Forschung an Menschen abseits der Verbrechen, die in den Konzentrationslagern geschahen.

Korrelationen zwischen der Luftmedizin und den Nervenkliniken zwischen 1930 und 1950 legte BEATE WINZER (Berlin) dar. Sie führte aus, wie die Entwicklung der modernen Luftwaffe im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg zu vermehrten Unfällen der Soldaten führte, die anschließend in den nach der NSDAP-Machtübernahme neu eröffneten Klinken für Luftmedizin auf ihre Lufttauglichkeit hin untersucht wurden. Auskunft darüber gaben die neu entwickelten Elektroenzephalogramme. Vor allem geprüft wurde auch die Moral- und Straffähigkeit bei psychisch kranken Soldaten, die als Resultat dieser Untersuchungen oft in Lazaretten und Kliniken ermordet wurden.

PAUL WEINDLING (Oxford) schilderte die Geschichte des Universitätsinstituts für Anatomie und Physiologie des Zentralnervensystems an der Universität in Wien sowie seiner Direktoren. Das 1882 gegründete Obersteiner-Institut verlor 1938 mit dem „Anschluss“ Österreichs sein gesamtes jüdisches Personal. Weindling ging besonders auf die Verbindungen zwischen Eduard Pernkopf und Alfred Prinz Auersperg ein, der nach der Emigration des Institutsdirektors Otto Marburg Aspirant auf den freigewordenen Direktorenposten und Protegé Pernkopfs war. Auch beleuchtete Weindling die nach dem Krieg vorgenommene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit des Obersteiner Instituts.

PHILIPP RAUH (München) nahm Werner Heyde, dessen Rolle im Rahmen der „Aktion T4“ gut erforscht und bekannt ist, vor allem als Leiter der Universitätsnervenklinik in Würzburg in den Blick. Rauh stellte den Fall eines sowjetischen Zwangsarbeiters dar, der von Medizinern der Gestapo als psychisch krank in die Würzburger Nervenklinik eingewiesen wurde. Hier konnten die Ärzte aber keine Erkrankung feststellen und versuchten, den Mann wiederum in ein Gestapogefängnis zu entlassen. Als dies schließlich gelang, starb der durch Mangelernährung geschwächte Mann während des Transportes, wobei es deutliche Hinweise gibt, dass Heyde an seinem Tod direkt beteiligt war.

Abschließend fassten Tobias Freimüller und Moritz Verdenhalven die während des Workshops gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse zusammen und diskutierten diese mit den Teilnehmenden. Man kam überein, dass weitere Kontextualisierung und eine vergleichende empirische Forschung zur Geschichte der Universitätsnervenkliniken im Nationalsozialismus lohnend und vielversprechend sei – sowohl national als auch im internationalen Vergleich. Aufgrund der schwierigen Quellenlage wird bislang vielfach die Täterperspektive der Ordinarien und Klinikleiter, selten aber die Opferperspektive der behandelten Patientinnen und Patienten thematisiert. Diskutiert wurde ferner die Frage, inwiefern sich viele der während des Workshops genannten Personen als Mitwisser, Mittäter oder Täter kategorisieren ließen. Die Frage der Täterschaft und einer Beteiligung von Universitätspsychiatern an NS-Medizinverbrechen stellt sich nicht nur dort, wo Psychiater zwar nicht an der „Aktion T4“, wohl aber an der Umsetzung der Zwangssterilisationen beteiligt waren. Aus dem Kreis der Teilnehmenden wurde angeregt, nach den Abgrenzungen einer herkömmlichen und sich in internationalen Forschungszusammenhängen entwickelnden Psychiatrie zu einer spezifisch nationalsozialistischen Psychiatrie zu fragen. Weitergehend könnte stärker beleuchtet werden, inwiefern sich die Praktiken innerhalb der deutschen Psychiatrien von denen im Ausland unterschieden und welche Veränderungen die Behandlungsmethoden nach 1945 durchliefen.

Konferenzübersicht:

Tobias Freimüller / Moritz Verdenhalven (Frankfurt am Main): Begrüßung

Volker Roelcke (Gießen): „Universitätspsychiatrie“. Zur Geschichte einer identitätsstiftenden Kategorie und Implikationen für die Historiographie

Lea Münch (Straßburg): Alltagserfahrungen mit der Elektroschocktherapie an der Psychiatrischen Klinik der „Reichsuniversität“ Straßburg im annektierten Elsass (1941–1944)

Martin Kiechle (Mainz): Patientenversorgung, Zwangssterilisationen und „Euthanasie“-Verbrechen. Die Universitätsnervenklinik in Jena während der NS-Zeit

Moritz Verdenhalven (Frankfurt am Main): „Zweifelsfälle bitte ich immer in der Konferenz zur Sprache zu bringen.“ Die Frankfurter Nervenklinik zwischen medizinischer Versorgung, Zwangssterilisationen und „Euthanasie“

Thomas Beddies (Berlin): Die Psychiatrische und Nervenklinik der Berliner Charité im Nationalsozialismus

Sabrina Freund (Erlangen-Nürnberg): Die Psychiatrische Universitätsklinik Erlangen und ihre Rolle in der NS-„Euthanasie“

Julia Nebe (Düsseldorf): „[E]in Material in Fürsorge“ – Zur Geschichte der „psychiatrischen und neurologischen Klinik der Medizinischen Akademie Düsseldorf“

Beate Winzer (Berlin): Luftmedizin, Mensch-Maschine-Interaktion und Nervenkliniken 1930–1950

Paul Weindling (Oxford): The Obersteiner Institute, Vienna, from Anschluss to Liberation, 1938–1945

Philipp Rauh (München): „Keine Pflege- und Bewahranstalt für andersstämmige Untermenschen“. Werner Heyde als Leiter der Universitätsnervenklinik in Würzburg

Abschlussdiskussion

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts